Stimmen aus dem Herzen Kairos

Kurzinterview mit Ahmed E. (Reiseleiter und Bauaunternehmer aus Kairo) via Skype zur aktuellen Lage in Ägyten:

kulturtransfer: Was wünscht du dir eigentlich als nächstes für Ägypten?

AE: Freiheit

kt: Sehr schön gesagt

AE: Danke. Und Würde. Das ist was wir uns wünschen

kt: Was sind denn die wichtigsten Änderungen, die jetzt geschehen müssen?

AE: Befristete Machtübergabe und das ohne Verzögerung

kt: Ist das Internet jetzt eigentlich wieder freigeschaltet?

AE: Größtenteils ja.

kt: Warst du selber an den Protesten beteiligt?

AE: Noch nicht, aber Freunde und Verwandte waren sehr aktiv. Ich bin erst gestern aus Oberägypten zurückgekommen.

kt: Du wohnst ja ziemlich zentral in Kairo- hat das mit den Nachbarschaftswachen eigentlich gut funktioniert?

AE: Ich habe gestern nacht Wache gehalten.Es funktioniert aber wir haben keine Waffen. So geht es nicht

kt: Sind es in erster Linie Banden und Plünderer oder wie oftmals berichtet auch viele Polizisten, die sich an den Plünderungen beteiligen?

AE: beides, aber vor allem Polizisten

Anmerkung der Redaktion: Danach brach die schwankende Verbindung ab. Vielen Dank für das kurze Statement an A.E.

#Flatrate_zur_Freiheit

Derzeit scheinen die Regime in Nordafrika und dem Nahen Osten im Wochentempo zu fallen. Diese rasante Revolutionswelle in der MENA-Region kommt natürlich nicht von ungefähr. Das Erstaunliche allerdings ist, dass trotz anderslautender Analysen sogenannter Nahostexperten dies nicht unter einem ideologischen Banner stattfindet. Die Aufstände in Tunesien, in Ägypten, im Jemen oder auch in Jordanien sind bunt durchmischt und schicht- wie auch glaubensübergreifend von einer Unzufriedenheit mit dem Hier und Jetzt geprägt.

copyrights: Operation Egypt

Jahrelange Unterdrückung, Arbeits-und Perspektivlosigkeit, Hunger, Verfolgung, Folter und Korruption sind die Ursache. Was bisher nur anonym in Foren oder hinter vorgehaltener Hand geäußert werden konnte, manifestert sich jetzt in einem gigantischen Wutausbruch. Der Wille zur Veränderung siegt über die Angst vor Repressalien. Nicht länger Zeuge sein, sondern das Geschehen in die Hand nehmen. Die Angst des Westens, dass nun islamistische Kräfte das Ruder an sich reißen könnten, zeugt von der Fehleinschätzung der Ausgangslage der Menschen. Vorhergehende Protestwellen in der Region wurden insbesondere durch westliche Medien nicht als signifikant wahrgenommen oder unzureichend reflektiert, das Potential der „arabischen Straße“ weithin unterschätzt.

Doch was hat diese enorme Geschwindigkeit des Umsturzes ermöglicht? Eine Schlüsselrolle kommt sicherlich der Vernetzung der Menschen in diesen Ländern zu. Mobilfunk, Soziale Medien und Netzwerke, Internetforen, manchmal auch nur der bloße Zugang zu ausländischen Informationsquellen prägt das Bewusstsein der jungen Generation in den Ländern der MENA. Die Kinder des wachsenden Mittelstandes, gebildet und gut informiert sind längst digital natives. Sie sind die Hauptakteure. Der Anspruch an das eigene Leben, die eigene Erfüllung, individuelles Bewusstsein im Austausch mit anderen in Echtzeit: Die Internetcafes in den Straßen Kairos, Sanaas oder Tunis liefern die Flatrate zur Freiheit. Die Geschwindigkeit der Medien ist auch die Grundlage für eine direkte Berichterstattung. Einfachen Menschen kommt durch das Bloggen die Rolle von Journalisten und Meinungsführern zu. Sie prägen das neue Bild ihrer Region, sie sind die neuen Kommunikatoren, die Stimmen ihrer Völker. Ziviler Ungehorsam via Twitter  prägt die Kommunikationskultur.Ob nun #jasminrevolt, #sidibouzid revolt, #tunisia revolt oder auch #jan25- es ist definitiv eine Social Media Revolution.

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Doch noch etwas ist charakteristisch für die Proteste: Mut und Zivilcourage. Ob nun die Nachbarschaftswachen in Tunis, die Plünderungen und Gewaltaten verhindern oder die vielen Freiwilligen, die das Ägyptische Kunstmuseum in Kairo nach den Protesten wiederherrichten. Die Menschen organisieren sich ohne eine zentrale Staatsmacht. Und es klappt ganz hervorragend.  Ein Bewusstsein für bürgerliche Werte und Zivilcourage zeigt sich an allen Ecken und Enden. Ohne dieses Selbstverständnis, ohne diesen Sieg der Vernunft über den Hass wären die revolutionären Umstürze wohl kaum möglich gewesen. So versuchte beispielsweise ein Sprecher der NDP, der regierenden Partei Mubaraks, auf Al-Jazeera international die Proteste vor laufenden Kameras zu marginalisieren und als Gewalttat von Banden und Plünderern abzutun. Gleichzeitig waren die Bilder von den friedlichen Protesten am Midan Tahrir in Kairos Innenstadt zu sehen-ein Widerspruch, auf den ihn auch die Moderatorin hinwies und ihm kurzerhand das Wort entriss. Dieser Umgang mit politischen Meinungsführern, die geprägt von der Arroganz der Machthabenden bisher ihre Geschichten medial verkauft haben ist es, der die neue Tonalität in der Berichterstattung ausmacht. Der erste Schritt zur Freiheit ist getan. Die Menschen in der Region müssen nun weiter kämpfen für den Erhalt ihrer Meinungsfreiheit. Und sie müssen umdenken. Genauso wie wir. Die Revolution hat begonnen . Und sie ist mehr als digital. Sie ist umfassend zeitgemäß.